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Henry zu gast auf der Burg

  • Geoffrey
  • Feb 3
  • 16 min read

Updated: Oct 25

Aus Kapitel 4 von Geoffreys Roman 'Back to Bamburgh'

Neue Übersetzung vom 24. Oktober 2025 von Stefan und Geoffrey


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Die Festung zu Bamburgh

Den 24. Oktober 1344

 

Im Großen Saal der Festung von Bamburgh an der englischen Nordseeküste fanden an diesem Abend Feierlichkeiten statt. Um die erfolgreiche Verteidigung gegen die schottische Invasion zu feiern, hatte der Baron seine adligen Mitstreiter aus der Burg und der Umgebung zu einem Festmahl geladen. Im Saal, in dem es durch die Hitze des lodernden Feuers und die ausgelassene Stimmung der Gäste bald heiß war, floss reichlich Met. Es wurden Wild und Fisch serviert, frisch aus den Wäldern und dem Meer, und auf den Tellern stapelten sich Randen, Rüben, Äpfel und Pilze. Es fehlte nicht an Nahrung für diejenigen, die das Glück hatten, eingeladen zu sein. Für Unterhaltung war auch gesorgt. Ein Minnesänger zupfte frivole Melodien auf seiner Leier und sang lauthals von schottischer Feigheit und englischer Tapferkeit. Er hüpfte durch den Saal und dichtete seine Geschichten anscheinend mühelos und mit gekonntem lyrischem Gespür. Die Gäste waren begeistert und feuerten ihn feuchtfröhlich an. Das heutige Festmahl stand ganz im Zeichen der Engländer. Der Baron hatte an diesem Abend sogar das Sprechen von Französisch verboten, das unter den Adligen allgemein üblich war. Jeder, der die schöne kontinentale Sprache sprach, außer im Spott oder im Scherz, wurde schnell und unehrenhaft aus dem Schloss verwiesen.

Der Einmarsch der Schotten in Bamburgh in der Nacht des zweiundzwanzigsten Oktobers war innerhalb von zwei Stunden niedergeschlagen worden. Er würde zwar nur als Scharmützel in die lokale Geschichte eingehen, doch er hatte seinen Preis gefordert. Dutzende von schottischen Leichen hatten das Land zwischen dem Meer und dem Dorf übersät. Viele schottische Kämpfer waren von der besser ausgerüsteten englischen Armee niedergemacht worden, andere waren auf dem Seeweg entkommen. Sie würden nun ihre Wunden lecken und Rache planen. Den Gefallenen war alles abgenommen worden, was einen materiellen Wert hatte, und die Leichen, die dem Dorf am nächsten lagen, waren eingesammelt und in einem Massengrab beigesetzt worden. Der Priester von Bamburgh hatte die rituellen Worte über den Toten gesprochen. Obwohl sie auf Erden erbitterte Feinde gewesen waren, wollte man ihnen den letzten Respekt und die letzte Ruhe nicht verweigern.

Kein bewaffneter Engländer war beim Angriff ums Leben gekommen, aber nach der letzten Zählung hatten drei Dorfbewohner von Bamburgh ihr Leben verloren, darunter Matthew. Dies war eine Katastrophe für die betroffenen Familien, aber bei aller Trauer wussten die Dorfbewohner, dass sie angesichts der Grausamkeit der Angreifer alles in allem gut davongekommen waren. Es gab einige Schäden an Eigentum und Vieh, aber die Dorfbewohner schlossen sich zusammen und halfen denjenigen, die Verluste erlitten hatten. Die Nähe zur Burg hatte sich ausgezahlt, und es herrschte ein allgemeines Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem Adel, der die Streitkräfte zur Abwehr der Angreifer eingesetzt hatte.

Unter den Gästen des Abends im Großen Saal waren auch der Gutsherr Sir Henry Backworth und seine Frau Edith. Ihr Herrschaftshaus lag nur eineinhalb Meilen vom Schloss entfernt im Landesinneren, vom Dorf aus gesehen. Henry war einer der ältesten Gäste, inzwischen fünfundsechzig, robust, wenn auch ein wenig gereizt heute Abend. Er war ein Gentleman von mittlerer Abstammung, aber er hatte das Glück gehabt, oder die Schlauheit, wie manche vermuteten, sich durch Heirat eine noch bessere Stellung verschafft zu haben. Edith war angeblich eine Nachfahrin von Ælla, dem König von Northumbrien aus dem neunten Jahrhundert, und von Generationen von Herrschern in Bamburgh. Das Herrschaftshaus war seit ihrer Geburt ihr Zuhause. Obwohl es keine richtige Festung genannt werden konnte, war es doch gut geschützt durch Mauern, Wasser, treue Leute und eine beträchtliche Anzahl Gesinde. Die Schotten waren in dieser Nacht nicht in die Nähe des Hauses gekommen. Dennoch war Henry verunsichert. Er gab der Burg und den laxen Wächtern die Schuld daran, dass es den marodierenden Schotten überhaupt gelungen war, an Land zu kommen, geschweige denn im Dorf zu morden. Die Tatsache, dass seine jüngste Tochter Catherine nicht im Haus auffindbar war, als ihn die Nachricht vom Angriff erreichte, hatte ihn mit Schrecken und Wut erfüllt. Doch innerhalb von Minuten hatte ein Bote die Nachricht überbracht, dass sie sich in der Burg in Sicherheit befinde, und später in der Nacht war sie nach Hause gebracht worden, geschockt, aber unversehrt. Es gab Gerüchte, dass sie im Gelände mit einem Mann erwischt worden war, aber die Fakten waren lückenhaft. Henry hatte Edith verlassen, um ihre ungestüme und unvorsichtige Tochter zu konfrontieren – er war zu wütend.

Da er wusste, dass er das Schloss kaum für die Angelegenheiten seiner Familie verantwortlich machen konnte, konzentrierte Henry seinen Zorn auf die harten Fakten der Kriegskunst und der Politik. Er wollte den Baron zur Rede stellen. Ärgerlicherweise und mit Absicht, da war er sich sicher, hatte man ihn und Edith auf Plätze weit weg vom Haupttisch verwiesen, von dem aus der Baron das Geschehen leitete.

Es hatte Zeiten gegeben, gute Zeiten, als die Könige von England auf Schloss Bamburgh residierten und in diesem Saal königliche Bankette abhielten. Der Baron spielte mit der Geschichte und gebärdete sich an solchen Abenden in königlicher Manier, und er hatte den „Thron“ für sich am Haupttisch aufstellen lassen. Auf diesem prächtigen, massiven und verzierten Stuhl hatten angeblich seit dem fünften Jahrhundert die royalen Hintern der Könige und ihrer Gemahlinnen geruht.

Henry war nicht beeindruckt. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er von solchen Festen begeistert gewesen wäre. Er hätte sich mit Hingabe in das Gelage gestürzt. Jetzt war er reserviert, zynisch und misstrauisch geworden. Baron Noble hatte zwar den passenden adligen Namen, aber er war ein Emporkömmling, ein Hochstapler, ein unbedeutender Fleck in der Geschichte Northumbriens.

Henry verübelte ihm seine Macht und die Art und Weise, wie er sie von der Burg aus ausübte, diesem altehrwürdigen Ort, der England selbst gleichsam geschmiedet hatte. Henry war ein treuer Anhänger des regierenden Edward III. Er konnte aber nicht verstehen, warum der König es dulden konnte, dass dieser Adelige diesen so bedeutenden Sitz besetzte. Edward war zugegebenermaßen sehr mit dem Krieg gegen die Franzosen beschäftigt und hatte wenig Zeit für interne Streitigkeiten.

Edith berührte die Hand ihres Mannes, der schmollend auf seinem Platz saß. Sie spürte seine Grübeleien, fing seinen Blick auf und erwiderte ihn mit einer Miene, den er so gut kannte. „Lass es ruhen“, sagten ihre Augen, „es gibt viele Dinge, die wir nicht verstehen.“

Der Minnesänger spielte in ihrer Nähe, und die Tischgenossen waren entzückt. Der Lord von Kreathorn Moor saß ihnen gegenüber, ein Mann, der so breit und langweilig war wie das Land, das er besaß, der aber irgendwie schöne Frauen anzog. Die Dame, die heute Abend neben ihm saß, war jemand, den die Backworths noch nie gesehen hatten. Ihr schrilles Lachen durchbrach den Lärm des Festes wie die legendäre Fee von Bamburgh. Neben den beiden saßen John und Joan Copeland. Neben Henry saß ein Ehepaar, das er kannte und schätzte: die Greylings, die etwas nördlich von Alnwick wohnten. Zwischen den Gängen von Wild und Pudding unterhielten sie sich angeregt über die Neuigkeiten von Schloss Alnwick und die neuesten Ambitionen von Chillingham, und Henry versuchte, John Copeland, der angeblich in den Diensten des Königs stand, Auskunft zu entlocken. Doch der Mann machte seinem Ruf als wortkarger und äußerst introvertierter Mensch alle Ehre und gab wenig preis.

Der Minnesänger zupfte auf seinen Saiten, legte den Kopf in den Nacken und stieß einen gellenden Schrei aus, als er seine letzte Darbietung beendete. „Aye, aye, aye, ayeeeeeeee!“, sang er, „zehntausend Schotten, zehntausend Schotten, ihr werdet in den Töpfen unserer Frauen als Leckerbissen kochen.“

Das Publikum jubelte, hob die Krüge und klopfte auf die Tische. Selbst Henry musste über die ganze Vorstellung lächeln. Lord Kreathorn erhob sich unsicher, Met tropfte von seinem Bart, und er zog den Musiker in eine bärige Umarmung.

„Wir werden die Schotten zum Abendessen verspeisen!“

„Jederzeit!“, scherzte ein anderer.

Die Gäste, die heute Abend an diesem Tisch in der Halle saßen, wussten vielleicht etwas über vergangene Schlachten in weiter entfernten Gebieten, aber sie wussten so gut wie nichts über die jüngste schottische Invasion in Bamburgh, deren Niederschlagung sie gerade feierten. So kam es, dass die phantasievollen Geschichten des Minnesängers schnell zum Allgemeingut wurden.

Henry leerte den Met aus seinem Becher und sah sich um. Einige der Gäste waren bereits gegangen. Er vermutete, dass es an der Spracheinschränkung lag. So mancher Gast hatte es sich wohl nicht zugetraut, nüchtern genug zu bleiben, um sich an die englische Sprache zu halten. Es kostete einige Mühe, sich nicht zu verplappern, und selbst Henry musste aufpassen. Der Baron erhob sich von seinem Tisch und unterhielt sich mit dem Hauptwachtmeister am Kamin. Das war die Gelegenheit, auf die Henry gewartet hatte. Er schob einen Diener beiseite, der seinen Becher nachfüllen wollte, und ging zum Feuer.

Baron Noble war ein junger Mann, zu jung, dachte Henry. Aber vielleicht war es nur sein glatt rasiertes Gesicht, das den Eindruck von Jugend vermittelte. Er war groß und geschmeidig, sein langes blondes Haar war ausladend zurückgeschlagen und fiel auf den Pelzkragen seines roten Umhangs.

Es war ärgerlich, dass der Baron die Begrüßung für sich beanspruchte, obwohl Henry ihn überrumpeln wollte.

„Henry Backworth!“, sagte der Baron. „Ich freue mich, dass Ihr den Weg zu mir gefunden habt, um heute Abend an unserem Fest teilzunehmen.“

Henry sträubte sich, gab sich aber Mühe, gelassen und souverän zu wirken.

„Mein Herr, James“, sagte er und wählte seine Worte sorgfältig aus. „Ich danke Euch in der Tat für Eure Freundlichkeit. Aber ich muss sagen, die Zeiten sind nicht gut. Ihr schlemmt und spielt, als ob alles gut sei, aber die Schotten haben gerade gezeigt, wie schlecht Eure Verteidigung ist.“

Der Baron tauschte einen vernichtenden Blick mit dem Wachtmeister aus, der steif wie eine Säule dastand, und murmelte: „Ach, der gute Backworth. Wie immer von der Welt geplagt.“

Dann wandte sich der Baron Henry zu, fasste ihn am Ellbogen und drehte ihn in Richtung des Saals. „Schaut, Henry. Und hört zu. Ich sehe unser Volk glücklich und zufrieden. Ich höre Gesang und Lachen, nicht das Zischen von Pfeilen und die Schreie der Verwundeten. Der Feind ist tot, in Bamburgh herrscht Frieden, unsere Truppen haben sich bewundernswert verteidigt.“

Henry schüttelte seinen Arm aus dem Griff des Barons. „Unsere Leute, sagt Ihr? In diesem Saal befindet sich nur eine Handvoll der wenigen Privilegierten, die Ihr bei Laune halten müsst. Ich kenne Bamburgh viel besser als Ihr, James. Und lasst mich Euch sagen, bewundernswert ist nicht das Wort, das ich in Bezug auf Eure Verteidigung benutzen würde. Ich bin auf meinem Weg hierher durch das Dorf gekommen. Es gibt Tote zu begraben, Häuser wieder aufzubauen, Lebensgrundlagen wieder zu erneuern. Unsere Leute sind fassungslos ...“

„Seit wann hegt Ihr eine solche Zuneigung zu den Dorfbewohnern?“ Der Baron war amüsiert.

Henry sah ihn mit wütendem Blick an. „Es geht darum, dass die schottischen Bastarde nicht in die Nähe der Burg oder des Dorfes hätten kommen dürfen. Eure Wächter haben einen meilenweiten Blick auf das Meer. Wie kann diese bewaffnete, barbarische Flotte am helllichten Tag in unseren Hafen am Fuße Eurer Festung rudern, in aller Ruhe an Land gehen und das Dorf überfallen, bevor sie zurückgeschlagen wird?“

„Ihr wisst nicht, wovon Ihr sprecht ...“

„Was war in Eurem Schloss los? Entweder schliefen die Wachen im Dienst, oder sie zechten, oder ... oder jemand ließ den Überfall zu.“

Dieser verbale Angriff auf die militärischen Fähigkeiten des Schlosses war zu viel für den Wachtmeister. Er konnte nicht weiter schweigen. „Sir Henry“, sagte er. „Seid versichert, dass die Wachen wachsam und effektiv waren. Es dauert halt seine Zeit, bis man hundert Mann bewaffnen und losschicken kann, sobald man den Ernst der Lage erkannt und die Strategie eingeschätzt hat. Eine Gruppe wurde durch das Tor von Sankt Oswald geschickt, um den Hafen zu sichern. Weitere Kräfte wurden durch das große Tor gesandt zum Schutz des Dorfes. Wie Ihr sicher versteht, mussten wir die ganze Zeit über sicherstellen, dass die Burg verteidigt und zu keinem Zeitpunkt angegriffen werden konnte.“

Der Baron übernahm wieder die Kontrolle mit einem herablassenden Ton. „Henry, setzen wir uns.“

Der Baron selbst zog einen Stuhl für Henry heran und stellte ihn neben das Feuer, wobei er Großmut gegenüber seinem Untergebenen zeigte, als sei er um dessen Gesundheit besorgt. Dann setzten er und der Wachtmeister sich ihm gegenüber. Mit einer leichten Bewegung seines Fingers rief er einen Diener herbei, der ihnen Krüge mit Met reichte. Von der Mitte des Raumes aus machte es den Anschein, als würden die drei Männer ein gemütliches Gespräch führen.

Henry sah den Baron an. Der Stuhl des Barons war höher als derjenige von Henry. Die lodernden Flammen reflektierten sich auf seinem Gesicht und gaben ihm ein wildes, unwirkliches, gottähnliches Aussehen. Henry nahm einen langen Schluck Met, um Mut zu schöpfen und seine Gedanken zu ordnen.

„Ich danke Euch, Herr Wachtmeister“, sagte der Baron. “Hört zu, Henry, die Verluste im Dorf tun mir leid, aber ich glaube nicht, dass es so schlimm ist, wie Ihr sagt. Dennoch, bitte, wenn Ihr wisst, wie wir unsere Verteidigung noch stärker machen können, dann sind wir offen, es zu hören. Sagt uns, was Ihr zur Stärkung unserer Abwehr beitragen könnt.“

Dies war nicht der Gesprächsverlauf, den Henry angestrebt hatte. Er musste jetzt versöhnlich sein. „James, bitte versteht mich nicht falsch. Wir sind alle auf der gleichen Seite. Es ist nur beunruhigend, das Leid zu sehen, das die Menschen ertragen müssen. Wie jeder von uns möchte auch ich, dass wir stark sind, und ich kann einfach nicht verstehen, wie so viele Schotten so nahe an die Festung herankommen konnten. Wenn ich in Zukunft wirksam helfen soll, dann lasst uns bitte zuerst über die Dinge sprechen, die jetzt geschehen sind.“

Das schien den Baron zufriedenzustellen. Der Wachtmeister beugte sich vor und sprach. „Ich habe die Ereignisse mit dem Militärkommando besprochen. Es war eine ungewöhnliche Zeit für einen Angriff der Schotten. Normalerweise kommen sie im Schutz der Dunkelheit. Diesmal war die Sicht noch gut, obwohl das Tageslicht bereits schwand. Es herrschte Vollmond. Bis auf die letzten ein oder zwei Meilen brauchten sie keine Fackeln, um die Küste entlang zu segeln. Wir sind uns nicht sicher, wo sie in See gestochen sind, möglicherweise von vielen Orten aus, um nicht frühzeitig aufzufallen. Möglicherweise kamen sie nicht von weit her, da der Wind an diesem Tag sehr schwach war. Der Wind hatte jedoch auf Nordost gedreht, was ihnen Tempo und Richtung verlieh.“

Henry nahm die Analyse mit Interesse auf, aber er runzelte dennoch die Stirn. „Aber man hätte sie doch am Schwarzen Felsen sehen müssen?“

Der Schwarze Felsen war ein hoher Vorsprung an der Küste von Bamburgh, von dem aus man das Meer überblicken konnte. Oft wurden dort auf der Klippe Leuchtfeuer entzündet, um Schiffe vor den darunter liegenden Felsen zu warnen, und Henry wusste, dass dort Wachen stationiert waren, um vor Angriffen aus dem Norden frühzeitig zu warnen. „Die Wache hätte Alarm schlagen müssen. Ein Heer von schottischen Booten ist nicht zu übersehen.“

Der Wachtmeister warf dem Baron einen kurzen Blick zu, antwortete aber sogleich. „Wie ich schon sagte, waren unsere Kräfte schnell im Einsatz. Wir verfügen über wirksame Informationen aus unserem Verteidigungsnetz, sowohl auf der Burg als auch an der Küste.“

Henry spürte, dass der Wachtmeister auswich. „Aber vom Schwarzen Felsen aus?“ Er schüttelte den Kopf. „Eine Wache hätte die Boote sehen können, wäre zurückgekommen, um Alarm zu schlagen, und man hätte genug Zeit gehabt, um eine Truppe loszuschicken und den Hafen vollständig zu sichern. Die Schotten hätten auf dem Wasser umgebracht werden müssen.“

Es wurde still. Schließlich ergriff der Wachtmeister wieder das Wort. „Die zuständige Wache ist nicht zum Schloss zurückgekehrt.“

Henry starrte ihn an. „Es gab keinen Alarm?“

Wenn vom Schwarzen Felsen aus kein frühzeitiger Alarm ausgelöst worden war, erklärte dies, warum die Schotten hatten an Land gehen und Chaos anrichten können. Das war in der Vergangenheit natürlich schon vorgekommen, und deshalb wussten die englischen Streitkräfte jetzt um die strategische Bedeutung der Station. Sie war immer bemannt. Es sei denn ... es gab einen Verrat innerhalb der englischen Streitkräfte selbst. Oder war die Wache durch einen ersten schottischen Angriff vom Land aus überwältigt und daran gehindert worden, Alarm zu schlagen? Seine Fragen waren zahlreich, und alle gaben Anlass zur Sorge. Doch Henry ahnte, dass er keine befriedigenden Antworten erhalten würde, selbst wenn diese Burgbewohner mehr wussten, als sie jetzt sagten. Stattdessen verlagerte er seinen Fokus.

„Welchen Angriff haben sie auf die Burg selbst verübt?“, fragte er.

„Sie haben es natürlich versucht. Es waren Bogenschützen. Nur ein paar brennende Pfeile schafften es über die Mauern. Kaum ein Treffer. Sie hatten wirklich keine Chance.“

„Hm. Also hat das Dorf die Hauptlast getragen?“

„Ich fürchte es, ja. Aber wir waren schnell genug, um größeren Schaden und den Verlust von noch mehr Menschenleben zu verhindern.“

„Sagt mir, Henry“, der Baron musterte ihn, “habt Ihr denn irgendwelche Einsätze zur Verteidigung unseres Volkes unternommen?“ Er betonte ,unser Volkʻ mit einem Anflug von Ironie.

„Gewiss“, sagte Henry gereizt. „Ich habe Reiter ausgesandt.“ Er ging nicht näher auf das Ausmaß ihres Wirkens ein.

„Wahrscheinlich, um nach Miss Catherine zu suchen“, sagte der Baron laut zum Wachtmeister, um seinen Vorteil zu nutzen.

Henry ließ sich tiefer in seinen Sitz sinken und hob seinen Becher zum Mund.

„Wir haben Eure Tochter gerettet“, sagte der Baron mit Nachdruck.

„Ja, und ich bin dankbar, mein Herr, dass die Armee sie gefunden hat, bevor ich es selbst tun konnte“, sagte Henry. „Sagt mir aber mehr. Wie ist es geschehen? Wie hat man sie gefunden? Ich möchte den verantwortlichen Männern persönlich danken.“

„Es war sehr beunruhigend, fürchte ich. Einer der Unteroffiziere ...“

„Unteroffizier Gatesbury“, half der Wachtmeister.

„... Unteroffizier Gatesbury rückte gegen die erste Welle der Schotten im Bereich der östlichen Dünen vor. An der Stelle, an der seine Gruppe ihren Anführer tötete, fanden sie weitere Männer, die im Sand Schutz suchten. Sie hatten Miss Catherine bei sich.“

Henry blinzelte schockiert. Das war neu. „Gott sei mir gnädig! Die Schotten hatten sie?“

„Ja, Sir“, sagte der Wachtmeister. „Offenbar lag ein Mann auf ihr ...“

„Wachtmeister! Erspart Sir Henry doch bitte die Einzelheiten“, warf der Baron ein. „Henry, der Mann wurde auf der Stelle erschossen. Eure Tochter wurde gerettet. Nichts ... Ungehöriges ... ist passiert. Ich bin sicher, dass Ihr Euch im Gespräch mit ihr bereits davon überzeugt habt.“

„Aber ...“ Henry war für einen Moment sprachlos. „Ich dachte ... wurde nicht jemand aus dem Dorf mit ihr angetroffen?“

„Wir haben einen jungen Mann aus dem Dorf festgenommen“, sagte der Wachtmeister. „Aber er steht unter Schock, und wir können nicht viel aus ihm herausbekommen. Es scheint, dass er versucht hat, sich einzumischen, aber er war unbewaffnet.“

Henry murmelte. „Tapferer Junge. Aber was hat er ...?“

„Sir Henry, bitte. Wir wissen es nicht.“

„Was wir wissen“, sagte der Baron, „ist, dass Catherine in Sicherheit und wohlauf ist und dass sie zu Hause ist. Und dafür, Henry“, fuhr er bedeutungsvoll fort, „denke ich, schuldet Ihr mir Eure ewige Dankbarkeit.“

„Ja, natürlich, James. Ich bin Euch sehr dankbar.“

Baron Noble stand auf. „Sir Henry“, sprach er so laut und feierlich, dass die Gäste am Nebentisch verstummten. „Ich verlange eine Anerkennung Eurer Dankbarkeit und ein Zeichen Eurer Treue.“

Bestürzt begriff Henry, dass der Baron ihn zu einem demütigenden Loyalitätsbeweis vor dem zuschauenden Adel von Northumbrien zwingen wollte. Er dachte einige Sekunden lang nach, wusste aber, dass er sich nicht weigern konnte. Der Raum war vor Erwartung verstummt, als Henry sich mit hochrotem Kopf erhob. Das einzige Geräusch kam von dem Minnesänger, der eine langsam ansteigende Tonleiter zupfte, die völlig spöttisch klang. Der Baron genoss es in vollen Zügen.

Henry, der hoffte, es schnell hinter sich bringen zu können, kniete vor dem Baron nieder, hielt ihm die Hände hin und senkte sein Haupt. „Mein Herr“, murmelte er. „Ich bin ewig dankbar für den Schutz, den meine Familie genießt, und ich gelobe ewige Treue.“

Er erhob sich etwas steif auf die Füße und küsste den Baron auf die Wange. Der Minnesänger klimperte in wilder Anerkennung auf seiner Leier, und die Gäste applaudierten, einige verlegen durch das Spektakel, aber viele in schallendem Gelächter. Henry lehnte sich in dem Stuhl neben dem Feuer zurück, das vor sich hin brannte, blickte starr nach vorn, vermied die Blicke der anderen und betete, dass die Zeit vergehen möge. Er sehnte sich nach Ediths tröstender Berührung, wusste aber, dass sie zu geschickt war, um jetzt schon zu ihm zu kommen, denn das würde wie Mitleid wirken und seine Verlegenheit nur noch vergrößern. Er konnte sich auch nicht dazu durchringen, zu ihrem Tisch hinüberzusehen, da er dort zu viele Freunde und Feinde sehen würde. Der Baron schritt nun hinüber zu seinen bewundernden Gästen, um seinen Sieg weiter auszukosten.

Der Wachtmeister stand noch schweigend am Kamin, vielleicht um seine Solidarität mit Sir Henry zu bekunden. Der Gutsherr zwang sich, wieder an andere Dinge zu denken, und als er den Blick des Wachtmeisters erhaschte, gab es keine Anzeichen von Belustigung oder Spott. Henry stellte sich neben ihn und sprach in einem ernsten, geschäftsmäßigen Ton zu ihm, um das Spektakel aus der Erinnerung zu verbannen.

„Herr Wachtmeister, ich freue mich, dass Ihr sagtet, das Schloss sei nie bedroht gewesen.“

„Niemals, Sir Henry.“

„Wenn das wahr ist.“

„Natürlich!“

Henry wagte einen Blick auf die Gäste. Die meisten waren fröhlich mit Essen, Trinken und Gesprächen beschäftigt. Niemand schien über ihn zu sprechen, und selbst der Baron war in ein ernstes Gespräch mit John Copeland vertieft. Edith wirkte im Gespräch mit den Greylings ganz normal.

Henry wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Wachtmeister zu. „Aber das gefällt mir nicht“, sagte er, kaum hörbar durch das Knistern der Flammen im Kamin. „Der Baron macht sich einen Spaß daraus. Wie er es oft tut. Ich traue seinem Urteilsvermögen nicht, aber ich möchte dem Euren vertrauen, Wachtmeister. Wie kann eine zerlumpte Schottenbande so nahe an die Burgmauern herankommen, ohne meilenweit davor zurückgeschlagen zu werden? Da stimmt doch etwas nicht.“

Der Wachtmeister knurrte und blickte starr ins Feuer.

Henry fuhr fort. „Vielleicht sind die Schotten einfach besser als wir denken – klüger, stärker –, und wir hatten letzten Freitag einfach nur Glück. Oder sie haben Hilfe, und wir haben mehr Feinde, als wir denken. Gibt es Verrat in unseren eigenen Reihen?“

Der Wachtmeister wusste, was hinter Henrys Beunruhigung steckte. Es waren nicht nur militärische oder politische Gründe. „Sir Henry, Ihr habt keinen Grund, an der Sicherheit der Burg zu zweifeln.“

„Ihr wisst, was ich Euch anvertraut habe.“ Henry legte ihm seine schwere Hand auf die Schulter. Sie bedeutete Vertrauen und Warnung zugleich. „Es muss um jeden Preis sicher bleiben. Ihr müsst es mit Eurem Leben beschützen.“

„Ihr wisst, dass diese Festung wahrscheinlich der sicherste Ort ist, den man sich vorstellen kann. Sie ist sicherer als Euer ...“

„Als mein eigenes Haus.“ Henry musste lächeln, als er den Satz des Wachtmeisters für ihn beendete. Seine Gedanken kehrten nach Hause zurück. „Zur Rettung meiner Tochter. Was genau ist passiert? Was hatte sie da draußen in den Dünen zu suchen? Hatte man sie gefangen genommen?“

Je mehr er darüber nachdachte, desto unruhiger wurde er. Es gab furchtbar viel, was er nicht wusste. Ihm kam der erschreckende Gedanke, dass sie das Ziel der gesamten schottischen Invasion gewesen sein könnte. Hatten sie sie entführen wollen in der Absicht, Lösegeld zu verlangen, in der Absicht ...?

„Sir Henry, ich weiß es nicht.“ Dem Wachtmeister fiel es schwer, geduldig zu bleiben, und er drehte sich zur Halle um.

Henry drehte sich ebenfalls um und betrachtete die Szenen der Heiterkeit. Baron Noble lullte die Welt in Sorglosigkeit ein, aber was steckte wirklich hinter all dem? Angestachelt durch den Ärger über seine jüngste Peinlichkeit, angeheizt durch die Hitze des Feuers und ermutigt durch den reichlich vorhandenen Met, hatte sich Henry nun auf ein Vorgehen festgelegt.

„Es ist der Zeitpunkt, um loszuziehen.“

Der Wachtmeister gab keine Antwort. Selbst Henry war sich nicht sicher, was er weiter dazu sagen sollte. Jedes weitere Wort schien in diesem Augenblick völlig unangemessen.

„Wie genau hat unser junger Mann aus dem Dorf Kate gerettet?“, sagte Henry schließlich.

„Das müsst Ihr Miss Catherine selbst fragen. Sie kennt sicher die Antworten auf Eure Fragen.“

„Das Mädchen ist widerspenstig. Ich werde sicher nichts aus ihr herausbekommen.“ Er lachte reumütig. Der Wachtmeister erlaubte sich ebenfalls ein Lachen. Es half, um die Spannung zu lösen.

„Aber ich könnte den Jungen natürlich fragen. Wo kann ich ihn finden?“

„Wir haben ihn hier“, sagte der Wachtmeister.

„Hier auf der Burg? Was hat er getan? Er sollte doch sicher zu Hause sein und dem Dorf helfen. Oder ist er verwundet? Oder ...?“

Der Wachtmeister hob eine Hand, um die Fragen abzuwehren. „Sir Henry, bitte! Nein, das glaube ich nicht. Ich werde nachsehen.“

„Macht das“, sagte Henry, der sich zunehmend darüber ärgerte, dass die Burgherrschaft zu viele Dinge zu kontrollieren schien. „Schickt den jungen Mann zu mir.“

„Wann ...?“

„Morgen. Zu mir nach Hause. Die Dinge kommen in Bewegung, Wachtmeister, und Ihr müsst jetzt mitziehen. Ich habe es schon einmal gesagt: Das hier ist größer als jeder von uns.“

Ermutigt durch seine Entscheidung, richtete Henry sich auf und betrachtete den Saal mit neuem Selbstvertrauen. Er war noch nicht zu alt dafür. Er forderte jeden heraus, der seinen Weg kreuzte. Edith sah ihn jetzt fragend von ihrem Platz aus an, und er lächelte vielsagend zurück.


 

 


 
 
 

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